Ich muss hier mal Werbung machen für das DJKT (J.-K.-Tyl-Theater) in Pilsen. Ein Vier-Sparten-Theater mit fantastischem eigenem Musical-Ensemble (neben Schauspiel, Oper und Ballett). In dieser Saison spielen sie unter anderem (die Links führen zum jeweiligen Trailer auf YT) Elisabeth, Billy Elliot, Sunset Boulevard, Sweeney Todd, Something Rotten, Fun Home, The Full Monty,American Idiot, My Fair Lady, außerdem Candide ("Oper"). (https://www.djkt.eu/repertoar)
Früher haben sie z.B. Cats, Catch Me If You Can, Joseph und Ghost gespielt.
(Mehr YT-Filmchen, v.a. zu den Premieren, gibt es bei Muzikál Expres, z.B. zu Elisabeth hier und hier mit mehr Eindrücken von der Show.)
Nun kenne ich mich in der nördlichen Hälfte Deutschlands nicht wirklich aus, was die dort an vielleicht Vergleichbarem haben könnten; ich verfolge nur ein wenig, was Linz so macht, und da spielt Pilsen mindestens in derselben Liga. Allein schon die reine Anzahl der Stücke, die gespielt werden; die Stückauswahl, die Qualität des Ensembles (ich habe nicht bemerkt, dass irgendwo genrefremde Künstler von Oper/Schaupiel ausgeliehen gewesen wären), die Qualität der Regie, das schöne Theater...
Die Inszenierungen der Opern etc. sehen, soweit ich das am Rande mitbekommen habe, ziemlich "klassisch" aus, d.h. nicht nach Regietheater, wo das Stück in einem verstrahlten Kühlschrank spielt. Wenn das für jemanden interessant klingt, ist Pilsen vielleicht auch für Oper / Ballett ein Reise wert.
Es gibt außer dem alten Theater (velké divadlo) einen sehr sympathischen modernen Neubau, der die "kleine Bühne" (malá scéna) und die "neue Bühne" (nová scéna) beherbergt. Die großen Musicals spielen in der nová scéna, dort gibt es schicke Bühnentechnik und einen gut ansteigenden Saal mit sehr guten Sichtverhältnissen.
Gespielt wird natürlich normalerweise auf Tschechisch, wenn man ein Stück zumindest gut genug kennt, um dem Bühnengeschehen auch ohne Textverständnis grob folgen zu können, sollte sich der Besuch trotzdem lohnen.
Nebenbei kosten die teuersten Karten auch nur umgerechnet 22€.
Gesehen habe bisher nur Elisabeth und Billy Elliot.
Billy Elliot ist natürlich eine wirklich tolle Sache - absolut solide Produktion, tolle Kids, im übrigen sind sie auch gut ausgestattet mit plausiblen Minenarbeitern, und... ich meine, es ist *Billy Elliot*. Welches Theater traut sich da überhaupt ran? Wie viele Theater hätten ihre liebe Mühe damit, dem Stück gerecht zu werden? Aber das DJKT wuppt das mal eben.
Was Elisabeth angeht: Pilsen ist für mich das Beste, was diesem Stück seit Yan Tax passiert ist.
Die Besetzung, zunächst mal, begeistert mich. (Viele Hauptrollen sind mit zwei Darstellern besetzt; den Tod z.B. spielt auch Jan Kříž (Tanz der Vampire).)
"Nichts, gar nichts" habe ich selten so eindrücklich gesehen und gehört wie von Soňa Hanzlíčková; auch "Boote in der Nacht" gestaltet sie als kleines Highlight, wo das Stück sonst gerne mal einen Langeweile-Durchhänger hat.
Pavel Režný ist ein ziemlich gefühlsbetonter Tod, ich möchte sagen: unglücklich verliebt, nicht zimperlich, stimmstark, charismatisch, beweglich. Gefällt mir extrem gut.
Es gibt wenige Rudolfs, die mir so gut gefallen haben wie Pavel Klimenda - ebenfalls, auch dank der Regie, klar auf der sensiblen Seite des Interpretationsspektrums.
Jozef Hruškocis Franz-Joseph sieht sich wohl meistens als "der einzige Vernünftige hier", aber erträgt die Leute in seiner Umgebung stoisch, "was will man sonst machen". Auf diese Art unterschätzt er aber auch immer wieder der Ernst der jeweiligen Situation, wenn er überhaupt was bemerkt, denn er ist beschäftigt.
Martin Holec legt den Lucheni relativ clownartig an, das muss einem nicht unbedingt gefallen.
Die Sophie ist als "Drache" angelegt, aber das kann Venuše Zaoralová Dvořáková richtig gut.
Eigentlich aber noch wichtiger aber für mich: die Regie.
Es passieren spürbar mehr Dinge auf der Bühne als in anderen Produktionen. Kleine (oder größere) kluge Dinge, die immer wieder irgendwo eingestreut sind.
Ein Beispiel: In "Rastlose Jahre / Nie kommt sie zur Ruhe" taucht einmal am Bühnenrand der kleine Rudolf auf und sucht seine Mama, die ist aber nicht da, er zuckt mit den Schultern und geht wieder. Etwas später taucht der große Rudolf auf, sucht seine Mama, die ist nicht da, er geht frustriert wieder. Etwas später taucht er noch einmal auf, Mama ist nicht da, er spritzt sich eine Droge, das Lied endet, er ruft einige Male verzweifelt nach "Mama!", und die Szene geht über in "Die Schatten werden länger", das nun also im Drogenrausch "auf der Kutsche des Todes" spielt (wie der Ort auch im Originallibretto bezeichnet wird). Die Art, wie das miteinander verknüpft wird, so dass die Szenen nicht nur für sich allein dastehen, finde ich toll, und ich finde es sinnvoll; und die Art, wie hier danach gefragt wird, was eigentlich diese andere Rolle macht und denkt, die an dieser Stelle bisher nie vorkam, gibt es in dieser Inszenierung auch an anderen Stellen (spontan fällt mir Helene in "Wie du" und "Sie passt nicht" ein), und das ist einfach alles so schön durchdacht und gibt dem Stück so schöne neue Impulse.
Bei Interesse kann ich mal zusammenschreiben, was es da sonst noch so an Regieeinfällen gibt.
Wer Elisabeth noch sehen will, muss sich vielleicht beeilen; es spielt nun schon seit Ende 2019 und hat jetzt seine letzte Saison. Im Spielplan werden nur noch zwei Shows angezeigt für dieses Jahr; ob es 2023 noch mehr geben wird, weiß ich leider nicht.